«Mit legalem Heroin könnte ich gut und gerne 100 Jahre alt werden»

Mit 16 spritzte er sich das erste Mal Heroin – daraus wurde eine 35 Jahre lange Abhängigkeit. Heute konsumiert Andi H. weder Drogen noch Alkohol, ist auf E-Zigaretten umgestiegen und ernährt sich vegetarisch. Als Peer-Mitarbeiter der Arud begleitet er Personen mit einer Hepatitis-C-Infektion.
by Julia Kind, 05. July 2021



«Es war ein riesengrosser Schock, als ich in der «Kiste» die Gelegenheit erhielt, mein gerichtspsychiatrisches Gutachten zu lesen! Als ich mit 22 Jahren las, was darin über mich stand, da hatte ich das Gefühl, ich sei der kränkste Mensch auf dieser Welt – psychisch völlig gestört und im Wahn. Ich dachte danach lange, ich sei geistesgestört. Es hat einige Jahre gebraucht, bis ich das richtig einordnen konnte.

«Immer wenn ich ein Ziel erreicht hatte, wurde es für mich wertlos»

Ich hatte immer wieder auch drogenfreie Phasen. Da setzte ich mir jeweils Ziele. Zum Beispiel machte ich eine Ausbildung zum diplomierten Fitness-Trainer und Masseur. Anschliessend eröffnete ich für Kieser-Training als Cheftrainer in Schlieren den Betrieb und arbeitete fast drei Jahre lang dort. Mit 32 machte ich noch die Handelsschule, mit Abschluss. Gemeinsam mit einem Kollegen gründete ich auch eine eigene Firma für Windschutzscheibenreparaturen. Doch immer wenn ich ein Ziel erreicht hatte, wurde es für mich wertlos und ich bin wieder abgestürzt. Ich hatte nie die Intention, auf dem, was ich erreicht habe, alt zu werden, und das dann für den Rest meines Lebens zu machen, sondern ich wollte mir einfach diese Möglichkeiten schaffen. Aber eben: In dem Moment, wo ich es hatte, hat es mich nicht mehr interessiert. Es ging mir dann auch zu gut! Ich hatte dann immer wieder das Gefühl: Jetzt bist du so gut drauf und gefestigt – jetzt kannst du dir auch wieder mal was gönnen.

Ich habe beruflich gut mit Heroin funktioniert. Ich habe sogar Training gegeben und mir jeden Tag drei Schüsse gesetzt. Mir hat man nie angemerkt, dass ich irgendwie verladen wäre. Doch früher oder später hat der Beschaffungsstress die Arbeitsqualität immer negativ beeinflusst, weil ich zu spät gekommen oder gar nicht erschienen bin. Es holt dich halt immer wieder ein und zieht dich mit der Zeit automatisch sozial runter. Nur schon deshalb, weil es verboten ist. Ich würde behaupten, dass ich mit legalem Heroin oder Morphium gut und gerne 100 Jahre alt werden könnte.

«Ich habe sie bis zum Schluss gepflegt»

Meine langlanglangjährige Lebenspartnerin war acht Jahre älter als ich und hatte mit Dope nie etwas am Hut. Sie hat sehr viel einstecken müssen und hat gelitten wegen mir. Ich habe mir Sachen geleistet in diesen Jahren, die auf keine Kuhhaut passen und die ich mir selber nie verzeihen werde. Ich könnte es auf die Sucht abschieben, aber ich war einfach nicht reif. Doch sie hat immer zu mir gehalten und an mich geglaubt.

Als sie im Rücken Schmerzen bekam, die bis hinunter in die Beine ausstrahlten, haben wir ein Jahr lang ein Dutzend Ärzte abgeklappert. Zum Teil ist sie dort mit Unmengen an Dafalgan abgespeist worden. Die meisten wollten sie gleich am Rücken operieren, obwohl sie nachweislich keine Diskushernie hatte. Nach einem Jahr und viel Frust und immer mehr Schmerzen habe ich versucht, irgendeine Koryphäe aufzutreiben, und habe dann auch eine gefunden. Dieser Arzt im Hirslanden war der erste, der ein Szintigramm anordnete. Dieses zeigte, dass sie bereits vom Kopf bis in die Füsse Ableger von einem Lungenkrebs hatte! Das ist etwas, das mich nicht loslässt und das in mir einen gewissen Hass erzeugt hat – also gegenüber dem System, nicht gegen einen Arzt persönlich gerichtet. Obwohl man den meisten vielleicht schon mal sagen müsste, dass sie «Pfluume» sind. Die Diagnose wurde im November 2013 gestellt und im Februar 2014 ist sie gestorben. Ich habe sie bis zum Schluss gepflegt, bis es wirklich nicht mehr ging. Sie wäre am liebsten zuhause gestorben, aber ich konnte es irgendwann nicht mehr verantworten und habe sie schliesslich ins Spital gebracht, wo ich auch über Nacht bei ihr im Zimmer bleiben konnte. Vier Tage später ist sie gestorben.


Wer mein Leben prägte? Sicher meine Mutter. Sie hat mich und meine Halbschwester – für mich ist es einfach meine Schwester – allein erzogen. Und dann kommt eigentlich schon bald mal P.B. (Arzt in der Arud). Er kennt mich jetzt seit 15 Jahren oder so. Er ist sowas wie mein Mentor. Er hat mich zum Beispiel mitgenommen nach Oslo an den Internationalen Hepatitis-Kongress, an dem ich über mich sprechen durfte. Das sind Sachen, die mich enorm aufgebaut haben – dieses Vertrauen, das er mir entgegenbrachte, und dass er mir so etwas zugetraut hat. Er war für mich sehr, sehr prägend, auch für meine Abstinenz.

«Es ist für mich einfach ein Medikament, das ich brauche»

Am Anfang habe ich mich oft unter Druck gesetzt, möglichst schnell das Methadon abzubauen, was ich heute als Fehler ansehe. Ich bin auch heute noch substituiert, und zwar mit retardiertem Morphin. Methadon vertrage ich nicht, vom retardierten Morphin hingegen spüre ich überhaupt nichts Negatives; das spüre ich quasi nur, wenn ichs nicht nehme. Ich bin zwar am Abbauen, langsam und sporadisch, aber ich setze mich da überhaupt nicht unter Druck. Es ist für mich einfach ein Medikament, das ich brauche.

Jetzt bin ich 60 und das ist so ein komisches Alter. Als ich jung war, war man mit 60 ein Greis, doch im Kopf fühle ich mich alterslos. Ich habe ein ziemlich extremes und vielseitiges Leben geführt in den ganz verschiedensten Kreisen und mit Erfahrungen, die die meisten wohl nicht machen. Ich lebe sehr bewusst im Augenblick und bin dankbar, dass ich schlussendlich doch einen guten Weg einschlagen konnte, trotz vieler Widrigkeiten, die ich mir in meinem Leben zum Teil auch selbst eingebrockt habe.»

Julia Kind
freie Mitarbeiterin Kommunikation