«Mein Vater hat mich für Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, sensibilisiert»

Für Mirjam Kälin wäre die Welt ohne Stigmatisierung der Menschen, die von der Gesellschaft als nicht «normal» bezeichnet werden, eine Bessere. Gerade Abhängigkeitserkrankte leiden auch in der medizinischen Betreuung darunter. Frau Kälins langfristiges Ziel ist eine Hausarztpraxis, in der sie alle Patient:innen unter einem Dach gleich betreuen kann.
by Myriam Meyer, 27. July 2022



«Nach meiner Erstausbildung als Operationsfachfrau und der Erwachsenenmatur habe ich Medizin studiert. Die Arud lernte ich unter anderem von Patient:innen, die ich während meiner Zeit als Assistenzärztin in den Spitäler betreut hatte, kennen. Die Suchtmedizin fasziniert mich einerseits durch den nahen Kontakt zu sehr vielseitigen und interessanten Menschen sowie auch aus medizinischer Sicht. Oft sind unsere Patient:innen sehr krank, beziehungsweise stellen sich erst bei uns vor, wenn sie bereits sehr krank sind.

Was ich an der Arbeit in der Arud schätze, ist die Begleitung der Patient:innen über einen längeren Zeitraum. Das ermöglicht mir, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufzubauen. Genau dies habe ich im Spital-Setting vermisst, die Patient:innen kommen und gehen und werden vielleicht auch nie wieder gesehen. Die Zeit als Assistenzärztin war geprägt von langen Arbeitszeiten, Schichtdiensten und vielen Stellenwechseln. Daher geniesse ich nun die Kontinuität und Möglichkeit zur Teilzeitarbeit in der Arud.

«Eine offene Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung ist das Wichtigste»

Unsere Patient:innen leiden an der Stigmatisierung in unserer Gesellschaft. Sie kommen oft sehr misstrauisch und verschlossen zu einer neuen Therapeut:in. Der Aufbau einer offenen Ärzt:innen-Patient:innen-Beziehung ist das Wichtigste. Nur mit gegenseitigem Vertrauen kann eine optimale Therapie durchgeführt werden.

«Es ist nicht immer einfach, unsere Patient:innen von den Vorteilen einer Therapie zu überzeugen»

Die Begleitung der Patient:innen von der Diagnosestellung, über die Aufklärung, bis hin zur Ausarbeitung der geeigneten Therapie und deren Kontrolle ist für mich die schönste Arbeit als Ärztin. Es ist nicht immer einfach, unsere Patient:innen von den Vorteilen einer Therapie zu überzeugen. Immer wieder kommt es vor, dass Therapien trotz Symptomen ablehnt werden – aufgrund von schlechten Erfahrungen von Bekannten bezüglich den Nebenwirkungen oder durch fehlendes Vertrauen in die Behandler:innen. Zum Beispiel gibt es einige, die schon seit den 90er Jahren Hepatitis C haben, aber aus Angst vor den Nebenwirkungen der früheren Interferon-Therapien die Behandlung ablehnen. Seit fast zehn Jahren gibt es eine neue Hepatitis-C-Therapie, die 95% Heilungschancen hat und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen aufweist. Wenn wir diese Patient:innen abholen können und sie durch die Therapie innerhalb von zwei bis drei Monaten vom Virus befreien können, freut mich das ungemein und bleibt in schöner Erinnerung.

«Auch die kleinen Schritte sind ein Erfolg, mit dem man zufrieden sein darf»

Für mich ist ein Erfolg in der Suchtmedizin, wenn ein:e Patient:in stabilisiert werden konnte. Dies bedeutet einerseits, dass es keinen Nebenkonsum von unkontrollierten Substanzen von der Gasse mehr gibt und es durch den fehlenden Beschaffungsstress automatisch auch zu einer Verbesserung des psychischen Wohlbefindens und des sozialen Umfeldes kommt. Natürlich ist auch eine Reduktion oder sogar Abstinenz der abhängig machenden Substanz ein Erfolg. Dies bezieht sich vor allem auf die Substanzen, die wir nicht ärztlich verschreiben können, wie zum Beispiel den Alkohol. Gerade in diesen Fällen habe ich bemerkt, wie wichtig eine regelmässige und vertrauensvolle Beziehung ist. Das Ziel und das Tempo bestimmen die Patient:innen, ich stehe ihnen nur als beratende und unterstützende Person bei. Auch die kleinen Schritte sind ein Erfolg, mit dem man zufrieden sein darf.

Der Austausch mit meinen Mitarbeiter:innen ist für mich sehr wichtig. Einerseits können belastende Situationen aber auch herausfordernde Situationen besprochen werden. Durch den nahen interdisziplinären Austausch mit den Psycholog:innen, Psychiater:innen und Sozialarbeiter:innen bekommt man einen tieferen Einblick in deren Fachgebiete und kann sie bei Bedarf jederzeit miteinbeziehen.

«Er hat mich für Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, sensibilisiert»

Mein längerfristiges Ziel ist es, mit gleichgesinnten Kolleg:innen eine eigene Hausarztpraxis zu leiten. Als Hausärztin ist man unabhängiger und hat mehr Gestaltungsfreiraum. Dort möchte ich das Wissen, das ich mir bei der Arud aneigne, weitertragen. Dass der Beruf der Hausärztin einen bis zur Pension erfüllen kann, zeigte mir bereits mein Vater. Am Mittagstisch wurde oft über seine Arbeit als Hausarzt auf dem Land gesprochen. Auch er bot Opioid-Agonisten-Therapien an. Er war es auch, der mich für Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, sensibilisierte.

«Es ist ein schönes Gefühl, einen Ort zu haben, an dem man Ruhe finden kann»

An gewissen Tagen will ununterbrochen jemand etwas von einem, dann kommst du raus und atmest tief durch und brauchst einen Moment, in dem niemand etwas von mir will. Da ist es ein schönes Gefühl, zu wissen, dass man man einen Ort hat, an dem man die gewünschte Ruhe findet, sei es in der Natur oder daheim in der Wohnung.

Ich arbeite 80% und habe somit jeden Montag frei. Es ist schön an diesem Tag, wo die meisten wieder mit der Arbeit beginnen, noch etwas Zeit für sich zu haben. Ich denke, dass meine positive Lebenseinstellung mir hilft, in diesem Umfeld gelassen arbeiten zu können. Meine Gesundheit und das Zusammensein mit guten Menschen und Freunden sind hierfür ebenfalls zentrale Punkte.

Myriam Meyer
freie Mitarbeiterin Kommunikation
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