«Es war ein langer Weg bis hierher»

Seine Schwester, bei der Luis H. (27 Jahre) wohnt, stellte ihm irgendwann ein Ultimatum: Entweder eine Therapie oder er fliegt raus. Mithilfe eines Arbeitsintegrations-Programms fasste er auch auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuss. Heute ist Luis H. im 2. Lehrjahr bei einem grossen Logistikunternehmen.
Von Julia Kind, 07. Oktober 2021



«Am meisten gefällt mir das Arbeiten von Montag bis Freitag. Es war ein langer Weg bis hierher. Ich habe 3 Ausbildungen angefangen: Zuerst als Fahrzeugschlosser, wo ich gekündigt habe, dann bei einem internationalen Transportunternehmen, wo ich rausgeflogen bin. Dann wollte ich Chauffeur werden, habe die Lehre angefangen, nach zwei Wochen kam der Bescheid vom Strassenverkehrsamt: Gesperrt für die Autoprüfung. Lehre verloren. Dann habe ich halt nichts mehr gemacht, hatte keinen Bock, irgendetwas zu machen, weil ich den Sinn dahinter nicht gesehen habe. Später habe ich nochmals einen Anlauf genommen und 220 Bewerbungen geschrieben, davon sind 219 mit Absagen zurückgekommen – die eine ist wohl irgendwo verloren gegangen. Da habe ich gejammert und geflucht, woraufhin Herr S., mein Psychologe in der Arud, meinte: ‚Bewerben Sie sich doch blind! Nehmen Sie Firmen, die nichts ausgeschrieben haben, und schicken Sie einfach Ihr Dossier hin.‘ Also habe ich Planzer geschrieben und Planzer gab prompt Antwort: ‚Kommen Sie mal Schnuppern!‘ Beim anschliessenden Eignungstest erhielt ich eine 5.5. Da sagten sie: ‚Ok, Sie können die Lehre haben.‘ Ich entgegnete jedoch gleich: ‚Ich würde sie sehr gern sofort nehmen, aber ich habe mega Schiss, dass ich sie versaue! Denn ich habe lange nicht mehr richtig gearbeitet.‘ Da meinten sie: ‚Danke für Ihre Ehrlichkeit. Wir möchten Ihnen trotzdem eine Chance geben: Kommen Sie doch für ein Praktikum.‘

«In diesem Job habe ich zum ersten Mal erlebt, dass ich für meine Arbeit geschätzt werde»

Am Anfang ist es echt schleppend gelaufen. Ich hatte im ersten Jahr 44 Kranktage, einfach weil ich ‚nöd ha möge‘ oder aber von Montag bis Donnerstag gearbeitet habe und am Freitag so kaputt war, dass ich am Morgen nicht mehr aus dem Bett kam. Zu Beginn habe ich ausschliesslich in der Spätschicht gearbeitet, weil Frühschicht nicht ging. Irgendwann hatten wir dann die Idee, dass ich meinen Arbeitsbeginn schrittweise vorziehe: Zuerst habe ich um 14 Uhr angefangen, später um 11 Uhr, dann um 10 Uhr, um 9 Uhr, um 8 Uhr und zuletzt um 7 Uhr. Da sagten sie: ‚Also jetzt – hier: Lehrvertrag unterschreiben!‘

Ich mit meinem ADHS und mit meiner verpeilten Art schätze die Arbeit als Logistiker sehr: Ich laufe etliche Kilometer pro Tag, bewege mich hin und her, kann schwer heben. Im zweiten Lehrjahr habe ich zudem viel mehr Freiheiten erhalten, kann selbstständig arbeiten, darf selber planen – das gefällt mir extrem! Bei Planzer habe ich auch zum ersten Mal erlebt, dass ich für meine Arbeit geschätzt werde. Noch heute sagen mir meine Kollegen jeden Abend, wenn ich Feierabend mache: ‚Hey, danke für deinen Einsatz, war super heute!‘

«Überall in der Wohnung, wo ich hinkomme, gibt es Erinnerungen»

Früher hatte ich mit Dealen und anderen Sachen zu tun und sass deswegen im Aargau vor Gericht. Ich wäre dafür fast ins Gefängnis gekommen – bis meine Schwester aufgesprungen ist und den Richter gefragt hat: ‘Gibt es nicht die Möglichkeit, dass er zu mir nach Zürich ziehen kann?’ Da meinte dieser: ‘Ja, gut: Raus aus dem Aargau für drei Jahre!’ Ich erhielt also Aargau-Verbot und bin seither – seit 2014 – bei meiner Schwester.

Ich habe extrem viel erlebt in dieser gemeinsamen Wohnung. Nicht nur Gutes, sondern auch vieles, das mit Konsum zu tun hat. Überall in der Wohnung, wo ich hinkomme, gibt es Erinnerungen. In den Esstisch, zum Beispiel, habe ich während einer Phase, in der ich voll drauf war, ein Messer gerammt. Diese Spuren sind alle noch da. Setze ich mich dorthin, sehe ich gleich wieder, was damals war, und denke: ‘Scheisse…!’ Wenn ich Zuhause bin, gibt es zwei Orte, wo ich mich aufhalte: Entweder auf dem Balkon oder in der Küche. In der Küche bin ich am liebsten, denn diese ist renoviert worden und sieht nicht mehr aus wie früher. Ausserdem koche ich sehr gerne – ich bin eigentlich auch derjenige, der immer kocht. Und auf dem Balkon kiffe ich halt. Zurzeit bin ich gross am Ausmisten. Anschliessend wird der Kleiderschrank weggeworfen und ein neuer gekauft – sich mal wieder einrichten und etwas reinstellen, an dem null Erinnerungen dran sind und wo man sagen kann: ‘Das ist jetzt einfach ein Schrank; da haben meine Kleider drin Platz und gut ist.’

«Ja, ich bin ein Mensch mit Suchthintergrund, ich stehe aber auch dazu»

An meinem ersten Tag an der Berufsschule war ich ein Idiot – ja, ein richtiger Idiot. Ich war so high, dass mir in der Aula, als ich an der vordersten Reihe vorbeiging, beim Herausholen des Natels ein fetter Sack Gras aus der Tasche gefallen ist. Die Anwesenden haben darüber natürlich einen Witz gerissen, doch ich bin gleich aufgestanden und habe gesagt: ‚Ja, ich bin ein Mensch mit Suchthintergrund, ich stehe aber auch dazu. Ich habe Fehler gemacht und ‚bügle‘ diese jetzt so gut wie möglich aus.‘ Das haben alle akzeptiert, sogar die Lehrer. Seither werde ich immer mal wieder gefragt, ob ich in der Schule von meinen Erfahrungen berichten könne, zum Beispiel wenn es darum geht, wie man sich im Strassenverkehr verhalten soll. Da packe ich jeweils die Kurzversion aus: Dass ich um das 14., 16. und 18. Lebensjahr herum mehrmals erwischt worden bin – ohne Führerschein und unter Drogeneinfluss. Deshalb bin ich für die Autoprüfung gesperrt. Ich erkläre den Schülern dann, wie wichtig es ist, im Strassenverkehr immer nüchtern zu sein. Wenn ich nämlich ‚druff‘ Auto fahre und mir jemand in den Arsch reinfährt, bin ich trotzdem derjenige, der drunter kommt – denn ich habe ja konsumiert! Häufig fragen mich die Schüler, weshalb ich mich damals so verhalten habe. Ich muss dann sagen: ‚Ich weiss es nicht. Ich war in dieser Zeit häufig völlig vernebelt. Hat dann der Dealer angerufen und gesagt: ‚Wenn du in 5 Minuten nicht da bist, fahre ich wieder weg‘, du aber zu Fuss 10 Minuten entfernt bist und neben dir das Töffli steht, dann bist du halt schnell aufs Töffli gestiegen und losgefahren.‘

Mein Ziel bis 40 ist: Einen Job zu haben, in dem ich solchen Trotteln wie mir helfen kann. Denn ich weiss, dass viele Drogen konsumieren, und ich weiss auch, dass viele damit nicht klarkommen. Ich selbst wäre damals froh gewesen, hätte ich eine jüngere Begleitperson gehabt. Deshalb ist das mein grosses Ziel: Unterstützung für alle zu bieten.

«Auch mit der Sucht kann man wieder in die Gesellschaft zurückfinden»

Bevor ich zur Arud kam, war mein Eindruck immer, dass Institutionen vom Staat dazu gedrängt werden, die Haltung zu vertreten, alle Drogen seien schlecht. Im Stil von: ‘Du musst aufhören, dein Leben macht sonst keinen Sinn und du kommst nie mehr in den ‘gesellschaftlichen Kreislauf’ zurück.’ Durch Herrn S. (Psychologe in der Arud) habe ich jedoch realisiert, dass man auch mit der Erkrankung, mit der Sucht wieder zurückfinden kann. Heute trinke ich keinen Alkohol und nehme keine harten Drogen mehr, aber ich nehme noch Medikamente und kiffe. Ich habe das Gefühl, dass es mir momentan gut tut – warum sollte ich da aufhören und mir auf die Lehre hin noch mehr Stress machen?! Auch das Geschäft weiss, dass ich kiffe. Aber sie wissen auch, dass ich vor dem Arbeiten und am Mittag nicht rauche, sondern nur abends. Sie meinten, solange meine Leistung stimmt, sagen sie nichts. Und die Leistung stimmt: Ich habe einen Schnitt von 5.5 – nachdem ich zehn Jahre nicht mehr in der Schule gewesen bin!»

Julia Kind
freie Mitarbeiterin Kommunikation