«Es ist einfacher, anderen zu helfen, als sich selbst zu helfen»

Damian R.* wollte seine jüngeren Geschwister vor dem gewalttätigen Stiefvater schützen, kam für zwei Jahre in ein Heim und wurde später kurz vor dem Abschluss von der Schule geworfen. Er würde gern in der Pflege arbeiten – wie seine Schwester und Mutter.
Von Julia Kind, 17. August 2021



«Ich habe 13 Monate lang ein behindertes Mädchen betreut, das im Rollstuhl sass und nicht sprechen konnte. Sie hatte einen Sprach-Computer, den sie ziemlich im Griff hatte. Manchmal hat sie die falsche Taste gedrückt, aber ich wusste jeweils, was sie meinte. Bevor ich den Job antrat, hatte ich denen meine ganze Lebensgeschichte erzählt: die Sucht, das Leben auf der Gasse, die Diebstähle und Einbrüche, alles mögliche. Trotzdem hiess es: Ja, ja, kein Problem, kümmere dich um unsere Tochter. Doch irgendwann fingen sie an, immer mich zu verdächtigen, sobald sie etwas nicht gefunden haben. Da kam die Mutter dann zu mir und sagte: «Darf ich mal kurz in deinen Rucksack schauen, bevor du nach Hause gehst? Wir finden das Ladekabel des iPads nicht.» Da musste ich sagen: Alter, was ist mit euch schief gelaufen?! Du vertraust mir dein Kind an, um das du dich selbst null kümmerst und mit dem ich anstellen könnte, was ich wollte, aber wenn dann irgendein Ladegerät fehlt... Das habe ich psychisch irgendwann einfach nicht mehr ertragen und habe deshalb aufgehört.

Was mir wirklich Freude bereitet hat, war Kijani, der Hund, den ich hatte. Es war ein Strassenhund aus Spanien, aus der Tötungsstation, der von «Vier Pfoten» hierher gebracht worden war. Als ich dort anrief, hiess es, ich müsse mindestens zwei, drei Mal vorbeikommen, bevor ich den Hund mitnehmen dürfe. Doch als ich dort war, hat der Hund gar nicht mehr auf sie gehört, sondern war einfach nur noch bei mir und liess sich streicheln. Ich war knapp eine Stunde dort und konnte ihn dann gleich mitnehmen. Er war dann immer bei mir, ausser wenn ich am Arbeiten war, und hat mich vor allem beschützt – auch vor Sachen, die für mich absolut keine Gefahr darstellten. Er hat gemacht, was ich ihm gesagt habe. Wenn ich einkaufen ging, musste ich ihn draussen nicht anbinden; der stand einfach vor die Tür und hat gewartet. Doch dann wurde ich verhaftet und sass 8 Monate in U-Haft. Meine Mutter liess ihn während dieser Zeit einschläfern – weil er der Katze ihres Partners im Streit ein Bein gebrochen hatte.

«Es ist immer in etwa das Schlimmste passiert, was passieren konnte. Ausser im Gefängnis – da hatte ich es immer gut»

Mein zwei Jahre älterer Bruder war ein Wunschkind, doch ich bin durch eine Vergewaltigung entstanden. Nach der Scheidung besass mein Vater aufgrund des Gerichturteils das Recht, uns jede zweite Woche zu sehen. Er lag dann das ganze Wochenende auf dem Sofa, während wir im Zimmer unten ferngesehen haben oder draussen waren. Interessiert hat er sich einen Dreck für uns. Er hat uns einfach zu sich geholt, weil er genau wusste, dass meine Mutter und wir das nicht wollten.

Der Vater meiner kleinen Schwester hat uns regelmässig geschlagen. Irgendwann stand ich mit dem Messer vor ihm und habe zu meiner Mutter, die sich dazwischen gestellt hat, gesagt: «Mami, entweder du trennst dich von dem Arschloch oder ich steche ihn ab.» Denn das geht nicht, dass er meinen kleinen Bruder, der damals vier Jahre alt war, auf dieselbe Weise schlägt wie mich mit 12 Jahren. Eine Woche später bin ich im Heim gelandet, zwei Monate später hat sie sich von ihm getrennt. Ich musste trotzdem zwei Jahre im Heim bleiben, weil es damals halt so war: Wenn du aufgenommen wirst, dann bleibst du 24 Monate, fertig. Das Heim war dann grad das nächste Trauma...

In der ersten Klasse habe ich mit dem Rauchen begonnen. Damals konnte man ja am Selecta-Automaten noch Zigaretten kaufen: Einfach Geld reinwerfen, keine Alterskontrolle, nix. Bald darauf kam Gras hinzu, und dann Pillen mal da von irgendeinem, mal LSD dort von irgendeinem, alles mögliche. Mit 14 begann ich mit Heroin, mit harten Drogen. Mit 18 Jahren – einen Tag nach meinem Geburtstag – habe ich mich an meinem Wohnort gleich für die Substitutions-Therapie angemeldet. Vorher haben sie mich nicht aufgenommen – egal, wie süchtig du bist und wie dringend du das brauchst...

«Dumm bin ich nicht, aber das hilft leider nicht, wenn du keinen Schulabschluss hast»

Mein Umfeld besteht aus meiner Familie: der Mutter, der Schwester, dem kleinen Bruder – ihnen vertraue ich blind. Schon mit 14 Jahren sagte meine Schwester, die 11 Jahre jünger ist als ich: Wenn sie dann mal auszieht, wird sie schauen, dass sie immer auch ein Zimmer für mich hat. Vier Jahre lang haben wir zusammen gewohnt, in drei verschiedenen Wohnungen. Sie hat immer gearbeitet; sie arbeitet viel zu viel. Ich bin dann jeweils einkaufen gegangen, damit sie nach dem Arbeiten nicht noch irgendwelches Zeugs nach Hause schleppen muss.

Meine Mutter und meine Schwester arbeiten beide in der Pflege. Über meine Mutter bin ich auch zu dem Job mit dem behinderten Mädchen gekommen. Inzwischen habe ich beim Roten Kreuz eine Ausbildung zum Assistenz-Pfleger gemacht, allerdings ohne das Praktikum, das 15 Tage umfasst hätte. Denn ich fand keine Stelle, die es mir erlaubt hätte, das Praktikum in Teilzeit zu absolvieren – alle verlangten, dass es am Stück gemacht wird. Und das kann ich nicht. Wegen des Knies. Und wegen der Schulter. Und der Hand. Deshalb habe ich die Ausbildung nicht abgeschlossen. Doch die beiden Prüfungen habe ich abgelegt und einmal als zweitbester und einmal als drittbester bestanden. Dumm bin ich nicht, aber das hilft leider nicht weiter, wenn du keinen Schulabschluss und keine Lehre gemacht hast.

Als ich kürzlich im Tram Aushänge sah, auf denen sie eine ÖV-Begleitung für ältere Leute suchen, habe ich mich sofort gemeldet. Weil das ja in etwa das ist, was ich vorher mit dem Mädchen im Rollstuhl gemacht habe. Diese Arbeit ist etwas, das ich gern mache – und was ich auch gut machen könnte. Halt nicht zu 100 Prozent, aber Teilzeit sollte ja möglich sein. Nächste Woche habe ich ein Gespräch mit der Teamleiterin.

Freiheit ist mir wichtig, doch vieles ist fremdbestimmt – durch das Sozialamt, die Abhängigkeit und so weiter. Dadurch, dass ich nicht mehr den ganzen Tag auf der Gasse rumrennen und dem Geld nachrennen muss, nicht mehr draussen schlafen muss und so Scheiss, besitze ich jetzt schon viel mehr Freiheit als früher, worüber ich sehr froh bin. Doch mein Leben könnte noch viel freier sein. Das ist mein Ziel.»


*Name geändert

Julia Kind
freie Mitarbeiterin Kommunikation
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