«Jeder Tag ist anders, was gibt es Spannenderes?!»

Als langjährige Mitarbeiterin am Medizinischen Schalter kennt Katja Twerenbold viele persönliche Geschichten der Patient:innen und hat zu einigen enge Beziehungen aufgebaut. Wenn die Patient:innen es wünschen, nimmt sie sich immer Zeit für kurze Gespräche, da sie oft die einzige Ansprechperson ist.
Von Myriam Meyer, 29. November 2021



«Für mich sind Erfolgserlebnisse, wenn Patient:innen dankbar den Schalter verlassen, weil wir ihnen mit unserer Arbeit den Alltag erleichtern konnten. Von der Gesellschaft werden sie oft ausgegrenzt. Bei uns hingegen erhalten sie das Gefühl von Gleichberechtigung, denn wir begegnen ihnen auf Augenhöhe – das erfüllt mich sehr. Ich finde, dass wir diese Einstellung am Schalter haben müssen, sonst ist man am falschen Ort.

«Ich habe mich schon immer für Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, eingesetzt und interessiert»

Meine Mutter war Physiotherapeutin und als Kind habe ich viel Zeit in ihrer Praxis verbracht. Dadurch bin ich schon von klein auf mit dem medizinischen Umfeld vertraut. So ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass ich später mit der Ausbildung zur MPA auch eine medizinische Richtung eingeschlagen habe. Zudem habe ich mich schon immer für Menschen, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, eingesetzt und interessiert. Als die Arud damals eine Stelle als Schaltermitarbeiterin ausgeschrieben hatte, bei der man einen medizinischen Hintergrund haben muss, hat mich dies sofort angesprochen. Nach dem Vorstellungsgespräch haben sie mich gleich genommen und seither bin ich hier (lacht)!

Bei der Arud arbeiten durchweg tolle Leute und ich schätze den Austausch mit jeder und jedem einzelnen. Auch die Patient:innen schätzen unsere Arbeit und geben uns extrem viel zurück, das ist unglaublich schön! Manchmal bekomme ich auch kleine Geschenke von ihnen. Erst vor kurzem ist ein Patient aus Thailand zurückgekehrt und hat mir eine aus Holz geschnitzte Vase mit einer Kerze geschenkt. Gestern hat jemand vom Blumenladen um die Ecke einen Blumenstrauss mitgebracht und zu Weihnachten sind es manchmal liebe Briefe oder sogar etwas Selbstgebackenes.

«Sucht ist eine Krankheit»

Es gibt auch Situationen, in denen Patient:innen aggressiv werden, dich verbal attackieren oder gemein sind. Wenn so etwas passiert, ist es wichtig, dass man sich abgrenzt und nichts persönlich nimmt – das muss man können und lernt man mit der Zeit immer besser. Sucht ist eine Krankheit und Betroffene können nichts dafür. Unser Team zieht am gleichen Strang und wir sind in solchen Situationen füreinander da. Auch unsere Vorgesetzten sind immer für einen da, wenn man ein Problem oder Anliegen hat.

Ich fühle mich auch nach 20 Jahren noch gefordert und im positiven Sinne ausgelastet im Beruflichen sowie im Privaten und bin daher auch sehr zufrieden. Ich bin nicht der Typ, der ‚weiss nöd was‘ für Ausbildungen machen muss. Aufgrund meines grossen Wissens am Schalter kommen viele Kolleg:innen mit Fragen zu mir. Die damit verbundene Verantwortung ist für mich genau richtig. Mein Privatleben ist ebenfalls sehr ausgefüllt, ich habe mit meinem Mann drei Kinder, ein Haus, einen Hund und einen grossen Freundeskreis.

«Ihr trinkt ja auch euren Alkohol, ob Prosecco oder Bier, und kein Mensch sagt etwas»

Wenn jemand Fragen stellt wie: ‚Was – die bekommen bei euch Heroin?! Ihr unterstützt ihre Sucht? Die müssen doch davon loskommen, wieso sind die überhaupt abhängig?‘, dann erkläre ich ihnen unseren Ansatz der Schadensminderung und fordere sie auch mal heraus, indem ich sage: ‚Ihr trinkt ja auch euren Alkohol, ob Prosecco oder Bier, und kein Mensch sagt etwas.‘ Viele bezeichnen sich als «modern», aber bei diesem Thema sind sie total weltfremd.

Ich höre auch oft: ‚Jessesgott, wie kannst du mit diesen Personen zusammenarbeiten? So gruusig.‘ Viele haben die Bilder der Verwahrlosung vom Platzspitz und Letten noch im Kopf. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie die jetzige Realität aussieht oder haben zum Teil sogar Angst vor unseren Patient:innen – man hat Angst vor dem, was man nicht kennt. Ich ermuntere diese Personen dann jeweils dazu, in der Arud vorbeizukommen und sich selbst ein Bild zu machen.

«Man soll die Leute nicht verbiegen wollen, sondern sie gern haben, genauso wie sie sind»

Ich bin allgemein ein sehr positiver Mensch und unglaublich dankbar, dass bei mir und um mich herum alles gut läuft. Es gibt ein Thema, das mir besonders am Herzen liegt: Dass man jeden und jede so leben lässt, wie er oder sie es möchte. Wir haben nämlich überhaupt kein Recht dazu, jemanden reinzureden. Aussagen wie ‚Dein Sohn ist doch ein guter Schüler, wieso macht der jetzt ‚nur‘ eine Kochlehre?‘ sind für mich unverständlich. Man muss das machen, was einem selbst Freude bereitet – alles andere ist ein Zwang von aussen, etwas, das die Gesellschaft erwartet. Da wehre ich mich dagegen. Auch meine Kinder sollen den Weg gehen, der sie glücklich macht, das ist das Wichtigste. Ich bin ein extrem toleranter Mensch und bitte ja auch niemand anderen darum, mein Leben zu gestalten. Man soll die Leute nicht verbiegen wollen, sondern sie gern haben, genauso wie sie sind.»

Myriam Meyer
freie Mitarbeiterin Kommunikation
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