Die erste Opiumkonferenz von 1912 stellt den Auftakt zur weltweiten Drogenprohibition dar. Ausgangspunkt dieser Entwicklung sind zum einen die beiden Opiumkriege während der 1840er- und 1850er-Jahre: Mit Waffengewalt erzwingt Grossbritannien in China die Legalisierung von Opium und sichert sich damit weiterhin einen lukrativen Absatzmarkt für sein in Indien angebautes Opium. Die Empörung über diese imperialistische Politik, mit der Grossbritannien Gewinn aus «Rauschgift» schlägt, führt in Europa und den USA zu einer Anti-Opium-Bewegung. Es bilden sich politisch schlagkräftige Gruppierungen, die nicht nur die britische Kolonialpolitik anprangern, sondern auch den Opiumkonsum in Grossbritannien selbst unterbinden möchten. In ihren Bestrebungen unterstützt werden sie dabei von der amerikanischen Regierung, die sich moralisch im Recht sieht in ihrem Kampf gegen die schmutzige Machtpolitik der alten, korrupten Kolonialmächte.
USA: Fehlende Regulierung und intensives Marketing
Gleichzeitig hat sich der Gebrauch von Opioiden in den USA mit dem Aufkommen der organischen Chemie im 19. Jahrhundert rasch verbreitet: Während Opium in seiner natürlichen Form bereits nach dem Ende des Amerikanischen Bürgerkriegs populär geworden war, fand nun Kokain unter anderem als Getränkezusatz in Coca-Cola Anwendung, Heroin zur Behandlung von Atemwegserkrankungen und Morphium als Allzweck-Schmerzmittel. Anders als in europäischen Ländern wie Grossbritannien und Preussen, wo das Apothekenrecht die Verfügbarkeit der Substanzen regelte, gab es in vielen Bundesstaaten der USA keinerlei Kontrollen; neue Produkte wurden für den Massenmarkt entwickelt und stark beworben.
Erst um die Jahrhundertwende werden die Gefahren der Abhängigkeit vollumfänglich erkannt; auch stehen erst allmählich neu entwickelte, nicht opioidhaltige Schmerzmittel wie Aspirin, das von Bayer 1899 eingeführt wird, zur Verfügung. Doch viele sind da bereits von Opium abhängig. Zur Behandlung und zur Stabilisierung ihres Zustands erhalten einige Patientinnen und Patienten von Ärzten und in Suchtkliniken im Rahmen der damals in den USA anerkannten Opioid-Agonisten-Therapie weiterhin ihre tägliche Dosis, um keine Entzugserscheinungen zu entwickeln. Ärzte gelten nun jedoch als Mitverursacher einer Opioid-Abhängigkeit und geraten zunehmend ins Visier von Prohibitionsbefürwortern.
Temperance Movement: Mit Moral gegen die Lasterhaftigkeit
Der damalige Zeitgeist ist stark geprägt durch die sogenannte «Temperance Movement» (Mässigung- bzw. Abstinenzbewegung), die im 19. Jahrhundert eine der einflussreichsten Reformbewegungen ist. Anfänglich vor allem in den Branntwein-konsumierenden, protestantischen Ländern in Nordamerika und Europa verbreitet, weitet sich die Bewegung international zu einer grösseren «Anti-Laster-Bewegung» aus. Diese von moralischen Vorstellungen geleitete Bewegung hat sich der Abschaffung der Prostitution, dem Kampf gegen Geschlechtskrankheiten, der Unterdrückung von Unzüchtigkeit verschrieben – sowie dem Verbot eines nicht-medizinischen Gebrauchs von Alkohol und anderen Drogen. In den USA erwirkt die 1893 gegründete «Anti Saloon League» schliesslich eine Alkoholprohibition, die von 1920 bis 1933 dauert, als Präsident Franklin D. Roosevelt sie nach seinem Amtseintritt aufhebt.
Von der «Opiumfrage» zum ersten internationalen Drogenverbotsabkommen
Aus Sicht des Westens gelten China und der gesamte Ferne Osten als Drogenproblemzone. Die erste Kommission, die sich 1909 mit der «Opiumfrage» befasst, findet denn auch in Shanghai statt. Doch schon damals sind es die USA, die die Fäden im Hintergrund ziehen und die kurz darauf in Den Haag eine weitere Konferenz vorbereiten: Mit der Ersten Internationalen Opium-Konvention von 1912 wird die Grundlage für unsere heutige Drogenverbotspolitik gelegt. Auch wenn darin nur Empfehlungen und noch keine rechtlich bindenden Regeln gegeben werden, stösst das Abkommen bei immer mehr Staaten auf Zustimmung und erzielt so eine grosse Wirkung. Die Konferenz fällt in eine Zeit der zunehmenden transnationalen Zusammenarbeit – auch in «nichtpolitischen» Fragen. Dabei steht der Schutz der Bevölkerung gegen einen befürchteten Sittenverfall immer stärker im Fokus und bietet damit eine wesentliche Grundlage für die vielen noch folgenden drogenpolitischen Konferenzen.
Stigmatisierung einer ethnischen Minderheit
In den USA wird derweil gegen chinesische Immigranten Stimmung gemacht. Die als tüchtig geltenden chinesischen Arbeiter sind nach 1850 in grosser Zahl eingewandert. Nach der Fertigstellung des Eisenbahnnetzes werden sie jedoch zunehmend als unwillkommene Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gesehen – auch von konservativen Gewerkschaften, die sich dem Schutz der teuren weissen vor den billigen farbigen Arbeitskräften verschrieben haben. In einer «anti-orientalischen» Kampagne wird die chinesische Minderheit nun systematisch über ihren traditionellen Rauchopium-Konsum stigmatisiert und diskriminiert. So wird 1875 in San Francisco das Rauchen von Opium, ein unter chinesischen Immigranten praktizierter Konsum, untersagt – während andere Konsumformen von Opioiden vorerst erlaubt bleiben. 1887 verbietet der Kongress explizit den Chinesen – nicht aber den Amerikanern – den Import von Opium. Und 1890 wird ein Gesetz erlassen, das die Produktion von Rauchopium exklusiv den Amerikanern vorbehält. 1909 wird der Import von Rauchopium in den USA schliesslich ganz verboten.
Parallel zu diesen gesetzlichen Entwicklungen wird eine «gelbe Gefahr» heraufbeschworen, die die Chinesen für den Sittenverfall verantwortlich macht: In den wildesten Ausschmückungen wird ein Bild von lasterhaften «Opiumhöhlen» gezeichnet. Schon bald gelten die Chinesen in der öffentlichen Wahrnehmung als genauso gefährlich wie das Opium, das sie rauchen, und wie die «Höhlen», in denen sie rauchen
Imagewandel der einstigen Droge der Oberschicht
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verändern sich die Bevölkerungsgruppen, die Opioide konsumieren. Bis dahin sind Opioide vorwiegend in der Mittel- und Oberschicht gespritzt worden. Da der Konsum hier diskret und in medikalisierter Form erfolgt und es sich bei den Konsumierenden um Gutsituierte handelt, sah der Staat keinen Anlass, um gesetzgeberisch dagegen vorzugehen (im starken Gegensatz zur Hetze, die gegen Opiumrauchende Chinesen betrieben wird). Doch jetzt sind es immer mehr auch Jugendliche aus Subkulturen, die in amerikanischen Grossstädten Morphium konsumieren. Das führt zu einem radikalen Imagewandel der Droge: Morphium steht plötzlich für gescheiterte, problembelastete Existenzen am Rande der Gesellschaft. Drogenkonsumierende werden nun als «geisteskrank» und potenziell gefährlich angesehen – auch vom Grossteil der Mediziner. Jene Ärzte hingegen, die ihren Patientinnen und Patienten im Rahmen der Opioid-Agonisten-Therapie weiterhin Opiate verschreiben, werden ab jetzt hart bestraft. Damit wird fortan ein repressiver und diskriminierender Ansatz verfolgt, bei dem Konsumierende marginalisiert und verfolgt werden und in den Zuständigkeitsbereich von Polizei und Justiz fallen.
Quelle:
Courtwright, David T. (2012): A Short History of Drug Policy or Why We Make War on Some Drugs but not on Others
Musto, David F. (1991): Opium, Cocaine and Marijuana in American History
Tanner, Jakob (1992): Daten zur Geschichte der Betäubungsmittelgesetzgebung
Tanner, Jakob (2009): Kurze Geschichte und Kritik der Drogenprohibition im 20. Jahrhundert