Bin ich schon handysüchtig? Ein Selbstversuch.
Der Anfang
Ich hatte nicht das Gefühl, einen überdurchschnittlichen Handykonsum zu haben, oder besser gesagt, ich hatte mich nie näher damit beschäftigt. Es ging meist nicht über ein «Ah ich sett weniger am Handy sii» hinaus. Eher so, wie wahrscheinlich die meisten schon mal sagten «Ich sött würkli afange meh Sport zmache». Durch eine Freundin bin ich auf das Buch «How to break up with your phone» gestossen, dessen Beschreibung vielversprechend klang:
Anhand aktueller Studien wird gezeigt, dass die ständige Beschäftigung mit dem Handy diverse Fähigkeiten beeinträchtig. Dazu zählen: neue Erinnerungen zu bilden, vertieft zu denken, sich zu konzentrieren und Informationen aufzunehmen. Es werden mit jedem Vibrieren und mit jedem Klingeln Hormone freigesetzt, die den Stresspegel erhöhen und typische Anzeichen einer Sucht sind. Leser:innen erfahren, was die ständige Interaktion für Auswirkungen auf unser Gehirn, unseren Körper, unsere Beziehungen und die Gesellschaft im Allgemeinen hat.
Es wird die Frage aufgeworfen: Wie viel Zeit wollen wir wirklich mit dem Telefon verbringen? Dabei geht es nicht darum, das Smartphone für immer aufzugeben, aber darum, zu lernen, achtsamer damit umzugehen und sich ganz bewusst zu entscheiden, wie wir die kostbaren Momente unseres Lebens verbringen wollen.
Apps, die unsere Suchtmechanismen ausnutzen
Mir war nicht bewusst, dass der grösste Teil aller Apps darauf ausgelegt ist, Menschen möglichst lange an sie zu binden, ja sie in gewisser Art und Weise sogar süchtig zu machen. (1) Eigentlich logisch, wenn man bedenkt, dass sie mit unserer permanenten Aufmerksamkeit sehr viel Geld verdienen. Wenn wir eine Nachricht oder ein Like erhalten, schüttet unser Gehirn Dopamin aus – ein Hormon, das für die Ausschüttung von Glücksgefühlen verantwortliche sind. Erstaunlich dabei: Es reicht schon der Blick auf das Handy, also die blosse Erwartung, dass etwas passiert sein könnte, und das Belohnungssystem wird angeregt!
Das Buch vergleicht den Vorgang im Gehirn mit der Mechanik von Spielautomaten: Es liegt in unserer Natur, nach so viel Dopamin wie möglich zu streben. Die Angst, etwas zu verpassen (FOMO), wird auf das nächste Level gehoben und löst unterbewusst permanenten Stress aus. Wir schauen also ständig auf das Handy.
Angst, mit den eigenen Gedanken allein zu sein
Beim Beobachten meines Handykonsums merkte ich schnell: Im Alltag konsumiere ich konstant irgendetwas. Direkt nach dem Aufstehen mache ich einen Podcast oder ein Hörbuch an und das begleitet mich praktisch durch den ganzen Tag, bei jeder Tätigkeit, die dies zulässt: Einkaufen, im ÖV, beim Putzen, Kochen, Essen und auch beim Sport. Komplett still ist es bei mir nie. So habe ich gemerkt, dass es ein Unwohlsein in mir auslöst, wenn ich mit meinen Gedanken allein bin.
Das zu realisieren hat mich erschrocken. Und auch wenn ich die Dinge, die ich höre, gerne höre, ist mir bewusst geworden, dass ich süchtig nach Ablenkung bin, weil ich ohne sie das Gefühl habe, meine Zeit nicht effizient zu nutzen. Dass schon längst bewiesen ist, dass Multitasking nicht funktioniert, habe ich gekonnt ignoriert. So auch die Tatsache, dass man in all den Tätigkeiten, die man gleichzeitig ausübt, höchstens schlechter wird.
Das Handy verändert unsere Gehirnstruktur
In diesem Artikel von «Das Magazin» wird erklärt, wie das Handy unser Gehirn verändert. Der Erläuterungsprozess scheint logisch: Wenn ich eine Tätigkeit jeden Tag zwei Stunden ausübe, wie beispielsweise eine Sprache lernen oder ein Instrument üben, werde ich schnell besser darin. Ich habe mir aber nie überlegt, was es heisst, jeden Tag drei bis vier Stunden Bildschirmzeit zu haben. Gemäss dem Buch büssen wir diverse Fähigkeiten ein. So ist eine essenzielle Eigenschaft des Gehirns, Informationen zu filtern. Wenn die Informationsflut jedoch zu gross wird, verlernen wir das. Wenn wir online einen Artikel lesen, muss unser Gehirn bei jedem unterstrichenen Wort oder jeder aufpoppenden Werbung binnen einer Millisekunde eine Entscheidung treffen: Daraufklicken oder nicht? Ähnlich den Muskeln kann der präfrontale Kortex (2) müde werden und nicht mehr so leicht unterscheiden, was wichtig ist und was nicht. Mit unserem Handykonsum trainieren wir uns also eigentlich auf das «nicht fokussieren».
Aufmerksamkeit statt Ablenkung
Das Gegenteil dieses zombieähnlichen Zustands, indem wir unsere Augen kaum vom Handy trennen können, heisst gemäss dem Buch «Flow». Der sogenannte Flow-Zustand definiert sich dadurch, dass wir in einer Tätigkeit vollkommen aufgehen, uns darin verlieren und dabei die Zeit vergessen: Kreativ sein, ein Buch lesen, Musik machen, stricken, kochen oder joggen etc.
Ich weiss nicht, wann ich bewusst das letzte Mal im «Flow» war. Vielleicht beim Lesen – aber auch eher selten, denn das Handy lag ja neben mir und ich wurde von jeder neuen Nachricht abgelenkt. Mehr als einmal war ich, ohne es zu merken, 15 Minuten auf Social Media und habe vergessen, an welcher Stelle im Buch ich war.
Somit musste ich mich ernsthaft fragen: Was ist mein Flow-Zustand? Was mache ich wirklich gerne? Langeweile wird zwar als Ursprung von Kreativität angesehen, aber mit dem Handy lasse ich gar keinen Raum für Langeweile. Ich beschloss: Ich möchte meine Emotionen wieder intensiver erleben.
«Wir erleben nur die Dinge, denen wir Aufmerksamkeit schenken.» - der Satz hat gesessen.
Die Aufmerksamkeit, die wir all den Apps geben, ist eigentlich das Wertvollste, was wir haben. Es stellt sich mir die Frage: Was möchte ich erleben und wem möchte ich meine Aufmerksamkeit schenken? Was lässt mich gut fühlen?
30 Tage Selbstversuch
Nach dem Eingeständnis, dass ich meinen Handykonsum nicht im Griff habe und mit dem Willen, ihn in eine positive Form zu verändern, habe ich am Montag, den 1. August die 30 Tage Challenge aus dem Buch gestartet. Gleich vorneweg: Ich kann sie jedem:r nur empfehlen. Es folgen hier ein paar Auszüge mit den für mich zentralsten Punkten:
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Es fiel mir schwer, beim Selbstversuch nicht ständig Ausnahmen zu machen. «Nur schnell…» «Jetzt isch grad wichtig…». Aber mit Hilfe einer Achtsamkeitsübung, bei der man sich darauf fokussiert, was in dem Moment der Handyzeit effektiv bereichernd war, musste ich feststellen: Oft gar nichts.
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Das Handy aus dem Schlaf- und Wohnzimmer zu verbannen hat mir gezeigt, wie oft ich den Reflex verspüre, auf mein Handy zu schauen. Aber ich merkte schnell, wenn ich morgens mein Handy einschaltete, erwartete mich eigentlich NIE eine dringende oder besonders spannende Nachricht.
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Das Zulegen eines Weckers und einer Armbanduhr haben mir zusätzlich geholfen, viel weniger auf mein Handy zu schauen und die Zeit- bzw. Weckfunktion nicht als Ausrede zu benutzen, das Handy nah bei mir zu haben.
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Ich habe ausserdem Benachrichtigungen von diversen Apps ausgestellt. Wenn man etwas wirklich wissen muss, dann schaut man selbst nach und wird nicht permanent durch das Aufleuchten des Bildschirms verführt, es in die Hand zu nehmen.
24 Stunden ohne Telefon
Ein einschneidendes Erlebnis waren die 24 Stunden ganz ohne Telefon. Mein Herz war nach diesen Stunden so voll mit schönen Emotionen, wie schon lange nicht mehr. Ich hatte bewusst mehr Zeit mit Freunden geplant und ihnen gesagt, Zeit und Ort seien verbindlich, weil sie mir nicht schreiben konnten: «chume 30 Minute z’spaht». An einem Abend ging ich mit einer Freundin zu einem Velorennen, bei dem wir viele schöne, spontane Begegnungen hatten. Hätten wir versucht, diese zu planen, wären sie wahrscheinlich nicht passiert. Meine Aufmerksamkeit war vollkommen beim Mitfiebern für das Velorennen – und da war er also, mein Flow-Zustand!
Mir wurde klar, wie oft ich unnötig auf das Handy geschaut hätte, wenn ich es dabeigehabt hätte. Es war ein unglaublich befreiendes Gefühl, eben nicht zum Handy greifen zu können und alles Erlebte einzig in meinen Erinnerungen festzuhalten. Das hatte ich in diesem Ausmass nicht erwartet. Und auch hier: Nach 24 Stunden war nicht eine wichtige Nachricht eingegangen.
Das Löschen von Social Media Apps
Social Media Apps zu löschen, das klang für mich zuerst drastisch (Überraschung vorweg: war es nicht). Nachdem ich begonnen hatte, Instagram bewusster zu konsumieren, war ich oft schnell gelangweilt und das Löschen der App kein grosser Schritt mehr. Wie im Buch vorgeschlagen, nutze ich die App nur noch am Computer und wenn, dann mit bewusst dafür eingeplanter Zeit. Die App ist weniger ansprechend auf dem Laptop (von Instagram bewusst so konzipiert) und ich schaue nur noch jene Beiträge an, die mich wirklich interessieren. Natürlich verliere ich mich immer noch ab und zu im Algorithmus, aber bedeutend weniger als zuvor und wenn es passiert, wird mir das schneller bewusst und ich kann mir die Frage stellen: Tut dir das jetzt gerade gut?
Und jetzt?
Es geht mir nicht darum, das Handy aus meinem Leben zu verbannen. Ich möchte mich nicht von der Gesellschaft abschotten, ich will für Veränderungen offen sein und dazu gehört in unserer Zeit fast unausweichlich auch das Smartphone. Ich möchte aber für mich selbst erkennen, welche Aspekte mir guttun und welche Aspekte zu viel Zeit von meinem Leben in Anspruch nehmen. Man kann nicht nur nach Substanzen süchtig werden, sondern auch Verhaltensweisen. Die Mechanismen, die süchtig nach dem Smartphone machen, werden stets «verbessert» und weiterentwickelt und ich hoffe, dass ich jetzt gewappnet bin, um ein allfälliges Suchtproblem frühzeitig zu erkennen und angehen zu können.
Meiner Meinung nach braucht dieses Thema mehr Aufmerksamkeit, so dass frühzeitig ein gesunder Umgang erlernt werden kann. Gerade junge, vulnerable Menschen, die im Hauptfokus der Smartphone- und Apphersteller sind, müssen etwas an die Hand bekommen, um mit diesen Mechanismen umgehen zu können. Eigentlich wie beim Autofahren: es wird auch niemand auf die Strasse gelassen, ohne das Fahren erlernt zu haben.
In diesem Sinne kann ich das Buch wärmstens empfehlen!
(1) Das nennt sich Interface- und User Experience-Design: Apps werden extra so designt und in ihren Funktionen so programmiert, dass es den Nutzer:innen so schwierig wie möglich gemacht wird, die App zu schliessen oder weniger zu nutzen – unbewusst natürlich.
(2) Diese ganze Entscheidungsarbeit übernimmt im Gehirn der präftrontale Kortex. Er liegt hinter unserer Stirn und ist das Kontrollzentrum unseres Gehirns. Von hier werden alle Signale aus der Aussenwelt mit vorhandenen Gedächtnisinhalten und Emotionen abgestimmt und nach adäquaten Handlungsmöglichkeiten gesucht.
Links:
Angebot der Arud zu Game- und Onlinesucht
freie Mitarbeiterin Kommunikation
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