«Ich kenne niemanden, der keine Rückfälle hatte.»

Für Betroffene und deren Umfeld können Rückfälle, - oder "Vorfälle", wie wir bei der Arud sagen - also alte Verhaltensmuster, in die man zurückfällt, sehr schwer sein. Frustration und Scham sind häufig damit verbundene Emotionen, die sich jedoch vor allem destruktiv auswirken. Dieser Blog-Beitrag soll aufzuzeigen, wie es zu Rückfällen kommt, was das für die Suchttherapie heisst und wie man sie als Chance nutzen kann. Unser Peermitarbeiter Andi ergänzt den Beitrag mit Zitaten aus seinen persönlichen Erfahrungen.
Von Myriam Meyer, 09. September 2022



Die Arud unterstützt Menschen individuell bei einem problematischen Substanzkonsum, wobei Abstinenz nicht zwingend das Ziel sein muss, sondern viel offener betrachtet eine Verbesserung der Kontrolle über den Konsum (Behandlungsablauf). Aus diesem Grund spricht die Arud auch nicht von Rückfällen, sondern von Vorfällen, die genutzt werden sollen, aus dem Ablauf zu lernen und das nächste Mal in einer ähnlichen Situation besser reagieren zu können. Dabei ist die Dynamik eines Vorfalls für alle Substanzen vergleichbar.

Vorfälle sind zu erwartende Ereignisse im Verlauf einer Suchttherapie

In der Suchttherapie unterscheidet man zwischen «Lapse», das sind kurze Ausrutscher, und länger andauernde Vorfälle, sogenannte «relapse». Allgemein sind damit Situationen gemeint, in denen man in alte Verhaltensmuster im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum fällt. «Mir sind in meiner 35-jährigen Heroinabhängigkeit beide Varianten mehrfach passiert.» Zu Vorfällen kann es aus den unterschiedlichsten Gründen kommen: Beispielsweise als Belohnung, wenn man ein Craving hat, in Verführungssituationen, bei unangenehmen körperlichen Empfindungen genauso wie bei angenehmen Gefühlen.

Egal aus welchen Gründen ein Vorfall eintritt, wichtig ist, wie man damit umgeht. Unter keinen Umständen sollten sie dramatisiert werden, denn Vorfälle sind zu erwartende Ereignisse im Verlauf einer Suchttherapie, die man als Chance zur Weiterentwicklung des Handlungs- und Reaktionsrepertoirs ansehen sollte. «Ich kenne niemanden, der keine Rückfälle hatte.» Daraus kann man lernen, Risikosituationen besser zu erkennen und zu verstehen und die eigenen Bewältigungsstrategien (Coping Skills) zu verbessern. «Ein Rückfall und die eigene Reaktion darauf zeigt einem, wo man im Prozess steht.»

Zur Veranschaulichung hier eine Grafik von den Psychologen Marlatt und Gordon (1985), zwei Pioniere auf dem Gebiet der Suchttherapie.

Man soll Vorfälle ernst nehmen, sich aber nicht entmutigen lassen

Mit einem Vorfall konstruktiv umzugehen, ist leichter gesagt als getan. Vorfälle werden von Betroffenen und deren Umfeld oft als Niederlage oder Versagen erlebt. Auch Schuld- und Schamgefühle können aufkommen. «Ich habe mir viele Vorwürfe gemacht und wurde erst recht depressiv.» Für Angehörige besteht beispielsweise das Risiko, wieder in besorgt kontrollierende Verhaltensmuster zu verfallen. Vorwurfsvolle Botschaften in beide Richtungen verstärken oben genannte Gefühle noch zusätzlich. Schaut man einen Vorfall differenziert an und versucht zu verstehen, was er wirklich bedeutet, kann man kompetent und angemessen reagieren und neue Hoffnung daraus schöpfen. Viele vergessen nur allzu häufig, dass Substanzgebrauchsstörungen ein komplexes Phänomen sind, in dem viele verschiedene Faktoren mitspielen und berücksichtigt werden müssen.

Wenn man herausfindet, was der Grund eines Vorfalls war, kann man sich für zukünftige Situationen wappnen. Dieser Lernprozess braucht Zeit, denn man muss sich die Fähigkeiten erst aneignen, mit unvermeidlichen Risikosituationen im (neuen) Alltag umzugehen. «Nimmt man es zu locker, ist man noch am Anfang. Um Fortschritte zu machen, muss man reflektieren. Dabei haben mir vor allem Gespräche geholfen, aber die Realisation und Kraft braucht ebenfalls Zeit.»

Konkrete Tipps für Betroffene

Betroffene sollten nicht allein bleiben. Angehörige, Beratungsstellen, Ärzt:innen oder Selbsthilfegruppen können helfen. Es ist ratsam, sich schon vor einem Vorfall Kontakte zurechtzulegen, denen man sich anvertrauen kann und möchte. So kann man schnell reagieren und driftet weniger in ein Gefühl der Hilflosigkeit ab. «Man muss die richtige Person finden, bei der man sich aufgehoben fühlt, sonst erzählte ich meinem Therapeuten einfach das, was er hören wollte.» Ausserdem kann man sich einen Plan zurechtlegen, was man bei einem sogenannten Konsumdruck (Craving) machen will. Als Beispiele seien hier Sport, Freunde oder Hobbies genannt. Es kann zudem helfen, sich das «WIESO» bewusst zu machen. Dabei geht es darum, sich nicht nur auf Schwierigkeiten zu fokussieren, sondern auch auf die Gründe, weshalb man das Konsumverhalten eigentlich ändern möchte und was man damit an verbesserter Lebensqualität gewinnen kann.

Konkrete Tipps für Angehörige

Wenn man Betroffene auf einen Vorfall anspricht, sollte dies möglichst ohne Vorwürfe oder Vorschriften geschehen. «Unter Druck setzen bringt nur Ablehnung und Gegendruck.» Die letztendliche Verantwortung, wie mit einem Vorfall umgegangen wird, liegt bei den Betroffenen. Wenn man helfen möchte, kann man beispielsweise fragen, wie sie damit umgehen möchten oder mögliche Handlungsoptionen aufzeigen. Man sollte jedoch versuchen, nicht für sie zu entscheiden. Es ist ausserdem wichtig, dass man auf das eigene Wohlbefinden schaut. Dabei können Vertrauenspersonen oder Fachpersonen sehr hilfreich sein.

«Ich habe oft erlebt, dass Angehörige vergessen werden. Man muss gut auf sich aufpassen, indem man so objektiv wie möglich bleibt. Man kann und soll gerne unterstützen mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen, aber bis zu einer selbst festgelegten Grenze. Nie ohne Gegenleistung alles geben. Wenn man mit der Problematik nicht vertraut ist, artet es schnell
in Gefühlserpressungen vom Betroffenen aus. Wenn ich überlege, was ich meiner Mutter alles angetan habe. Ich habe ihre Unterstützung oft ausgenützt. Ich bin ihr im Nachhinein natürlich für vieles sehr dankbar, aber das wäre ich auch gewesen, wenn sie öfters auch auf sich geschaut hätte.»

Ein Lernprozess, der Zeit braucht

Ein Verhalten nachhaltig zu ändern, benötigt Zeit und gelingt meist nicht beim ersten Anlauf. Rückschläge, beziehungsweise Vorfälle, sind somit ein natürlicher Teil des Lernprozesses und absolut kein Grund, sich zu schämen. Die Arud legt besonderen Wert darauf, ihren Patient:innen Strategien zu vermitteln, wie mit solchen Vorfällen konstruktiv umgegangen werden kann.

Hier geht es zum Download der Broschüre von Sucht Schweiz mit weiteren hilfreichen Tipps.

Hier geht es zum Blog Beitrag von Andi H.

Myriam Meyer
freie Mitarbeiterin Kommunikation
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