«Ich bin eine Überlebende»
«Ich bin mit meinen Eltern, meinem Bruder und einer weiteren Familie in einer Gross-WG im Zürcher Oberland aufgewachsen. Meine Eltern wollten die Ideale der 68er leben. Sie nahmen immer wieder Pflegekinder bei sich auf. Für meinen Bruder und mich war das nicht immer einfach. Aber meine Mutter hatte für alle im Haus ein offenes Ohr. Besonders die älteren Mädchen fühlten sich von ihr sehr wahrgenommen und sagten immer wieder zu mir: ‘Dis Mami, das isch die Bescht vo allne!’ Ich hatte mich sehr aufs Älterwerden gefreut und dachte, dann würde meine Mutter auch für mich da sein. Aber als ich zwölf war, starb sie bei einem Autounfall. Nach ihrem Tod war nichts mehr wie vorher. In unserer Familie hat jeder für sich getrauert und musste seinen eigenen Weg finden, um mit diesem Verlust umzugehen. Ich habe meine Mutter wahnsinnig vermisst und fühlte mich sehr allein mit meinem Schmerz. Damals kam niemand auf die Idee, dass ich vielleicht fachliche Unterstützung gebraucht hätte.
«Auf dem Platzspitz schaute man aufeinander. Das fühlte sich für mich ein bisschen wie Familie an.»
Als ich 17 war, zogen mein Vater, seine neue Frau und mein Bruder weg. Ich blieb mit den übrigen WG-Bewohnerinnen und -bewohner in dem grossen Haus zurück. Am Anfang fand ich das noch cool, aber ich musste dafür sorgen, dass die Mieten meiner Mitbewohner reinkamen. Natürlich war ich überfordert! Ich war damals schon drogenabhängig und ging immer wieder nach Zürich auf dem Platzspitz. Dort schaute man aufeinander; für mich fühlte es sich ein bisschen wie Familie an. Die Zustände auf dem Letten nach der Platzspitzräumung waren tausend Mal schlimmer.
Irgendwann habe ich beschlossen, dass es so nicht weitergehen kann. Ich hatte von der kontrollierten Heroinabgabe gehört. Die Hürden, in das Programm aufgenommen zu werden, waren aber sehr hoch. Ich musste nachweisen, wie viele Therapien und Entzüge ich schon unternommen hatte, um von den Drogen wegzukommen. Ich hatte tatsächlich schon einiges probiert: Gesprächstherapien, eine Maltherapie und dies und das. Ich war auch mehrere Monate im Burghölzli (Psychiatrische Universitätsklinik Zürich - früher umgangssprachlich Burghölzli genannt). Ich hatte den schönsten Sommer dort! Mit einer Mitpatientin habe ich immer Federball gespielt und sogar Grillabende organisiert! Aber ich habe den Therapeuten gesagt: ‘Loset, es gefällt mir gut hier, aber ich weiss, das ist nicht das Richtige für mich.’
Schlussendlich wurde ich dann in das Heroinabgabeprogramm der Stadt Zürich aufgenommen. Über die Vermittlung des ZoKL (Zürcher Opiat-Konsumlokal) habe ich später eine Stelle in der ETH-Bibliothek erhalten. Ich habe über 20 Jahre dort gearbeitet. Ich war gerne dort, habe richtig Karriere gemacht und das neue Digitalisierungscenter mit aufgebaut – bis meine super Chefin gegangen ist. Mit dem neuen Vorgesetzten kam ich überhaupt nicht klar. Ich wurde auf Schritt und Tritt kontrolliert und schliesslich ins Magazin versetzt. Dann kam noch die Scheidung von meinem Mann dazu. Zu dieser Zeit ging es mir gar nicht gut. Manchmal trank ich schon am Morgen vor der Arbeit eine Flasche Vodka. Dann kam der Tag, an dem nichts mehr ging. Fertig. Ich habe mir geschworen, ich arbeite keinen Tag länger dort.
«Die Sozialarbeiterinnen der Arud begegnen uns auf Augenhöhe.»
Ich kam während Corona zur Arud; meine Ärztin hatte mich auf meinen Wunsch hin hierhin überwiesen. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich am richtigen Ort. Daheim aber wuchs mir alles über den Kopf: Ich hatte viele offene Rechnungen, meine Post öffnete ich schon lange nicht mehr. Äs Riesechaos! Meine Therapeutin empfahl mir, mich bei der Sozialberatung der Arud zu melden, was ich auch tat. Die Sozialarbeiterin Frau S. hatte total das Gschpüri. Sie hat mir zugehört und dann den Hörer in die Hand genommen und bei allen Stellen angerufen und erklärt, wer sie ist und was die Arud macht, hat mit dem Steueramt und mit den Krankenkassen und so weiter Ratenzahlungen vereinbart. Seither habe ich keinen Stress mehr mit dem Geld. Die Sozialarbeiterinnen hier begegnen uns auf Augenhöhe und kommen nicht mit diesem erzieherischen Ton wie früher beim Sozialamt der Gemeinden, wo die Angestellten sich über die Feuerwehr kannten, über uns schwatzten und wussten, dass wir die Drogenkonsumenten sind. Vielleicht ist das heute anders, ich weiss es nicht. Ich fühle mich gut aufgehoben bei der Arud und das ist gut so.
«Ich bin der Arud so so dankbar, dass ich hier sein darf.»
Ich bezeichne mich als Überlebende nach dem ganzen Stress mit Drogen, Geld und all den anderen schlimmen Geschichten. Ich bin immer zu meiner Drogensucht gestanden. Das ist mein Leben – und ich bereue mein Leben nicht. Heute bin ich bei der Arud und bin so dankbar, dass ich hier sein darf. Meine Sozialarbeiterin Frau S., meine Ärztin, die Mitarbeiterinnen am Schalter, die sich mit uns abgeben müssen. Sie alle sind super! Wir Drogenkonsumierende sind krank. Mein Ziel ist nicht, ohne Substanzen zu leben. Ich will mit den Substanzen leben! Ich bin nun einmal drogenabhängig und das wird hier akzeptiert. Punkt.»
Über die Sozialarbeit der Arud
Unsere Sozialarbeiter:innen übernehmen im Rahmen des Therapiesettings unserer Patient:innen eine zentrale Rolle bei der Existenzsicherung und Stabilisierung der Alltagsstrukturen und unterstützen sie bei Wiedererlangung ihrer Fähigkeiten und ihrer Selbständigkeit. Das Angebot wird nicht von den Krankenkassen getragen. Spenden helfen uns, das Sozialarbeitsangebot für die Zukunft zu sichern. Hier geht es zu unserem Fundraising.
Mehr über unsere Sozialarbeit finden Sie hier.
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